Dienstag, 23. Dezember 2014

Searle & Simplicissimus


von Ulli Lust


Ihr Ruf ist so schlecht, ich bin versucht, die Namensnennung hinauszuzögern. Und doch hat Jochen-Martin Gutsch 2003 in der Berliner Zeitung ganz bezaubernde Worte für sie gefunden:"Hannover ist das Gegenteil von Sommer. Wäre Hannover ein Monat, käme der November in Frage. Hannover als Essen vorgestellt, wäre eine Brühe, und müsste man Hannover mit einer Geste beschreiben, würde man gähnen. Hannover heißt durchfahren, aber nicht bleiben. Es ist der beste Umsteigebahnof in Deutschland."
Ich bin ausgestiegen. Genau genommen steige ich jede Woche aus und bleibe drei Tage. Ich unterrichte hoffnungsvolle junge Zeichner an der Hochschule Hannover in den Disziplinen der narrativen Zeichnung. 


Zeichnende Studenten im Georgengarten vor dem Wilhelm-Busch-Museum, Sommer 2014
Gemeinsam besuchten wir 2013 eine atemberaubende Sonderausstellung mit Bildern aus der Zeitschrift "Simplicissimus" (1896 - 1944) im hiesigen Willhelm-Busch-Museum, Museum für Karikatur und Zeichenkunst. Ja, sie raubten mir den Atem, die grossformatigen Originalzeichnungen von Olaf Gulbransson, Karl Arnold, Thomas Theodor Heine und vieler anderer. Ihre Arbeiten vereinen handwerkliche Könnerschaft, inhaltliche Schärfe und kompositorischen Mut, hier erreichten Pressezeichnungen eine ästhetische Qualität, die in späteren Publikationen selten geworden ist. Diese Blüte mag am Geist der Zeit gelegen haben.





Die Ausstellung ist längst abgebaut, die Bilder ruhen wieder in metallenen Schubladen in einem korrekt klimatisierten Raum im Keller des Museums, gemeinsam mit vielen anderen historischen Artefakten.
Dieser Schatz übt eine magische Anziehungskraft auf mich aus, ich möchte ihn für meine Studenten erschliessen. Sie sollen wissen, auf welchen Schultern sie stehen. Es sind die Schultern von Riesen.

Frau Reich führt uns - den Kunsthistoriker Friedrich Weltzien und mich - nicht in den Keller, sondern über verwinkelte Hintertreppen durch Flure voller Bücherregale bis unters Dach in ihr Büro. Sie erschließt den Nachlass des britischen Zeichners Ronald Searle (1920 - 2011).  Searle hat ihn britischen Museen angeboten, aber während die sich zögerlich zeigten, sagte das Willhelm-Busch-Museum zu, nicht nur Teile seines Nachlasses, sondern das gesamte Konvolut inklusive Searles privater Sammlung historischer Karikaturen zu hegen und zu pflegen. Kurzentschlossen fuhren die (damals noch stellvertretende) Direktorin und ein Kollege mit dem Auto nach Südfrankreich in das 150-Seelen-Dorf, in dem Searle wohnte, und brachten den 2. Teil der Kisten (der 1. Teil war bereits 2010 als Verlass eingetroffen) nach Hannover. (siehe auch: Text von Andreas Platthaus für die FAZ, 2010)
Frau Reich erzählt, ich sehe mich im Raum um. Auch hier Bücherregale an allen Wänden. "Und was ist das hier?", frage ich, auf die Regale deutend. "Das ist der Nachlass," antwortet sie,"zumindest Teile davon." Ich sehe mir die Buchrücken genauer an und die in akkurater Schnörkelschrift handgeschriebenen Beschreibungen des Inhalts. Es sind keine Bücher, es sind Mappen.

Darin finden sich Belegexemplare, Korrespondenzen mit befreundeten Künstlern, Skizzen & Skizzenbücher. Es gibt eine Reihe von Mappen mit den Aufschriften wie "Birds", "Plants", "Circus" ... Ich erkenne sie: "Ach, das sind die Materialsammlungen, die man früher als Illustrator anlegen musste, Zeitungsausschnitte, Fotos, Vorlagen für Zeichnungen. George Grosz hat in seiner Autobiographie "Ein kleines Ja und ein großes Nein." sehr unterhaltsam beschrieben, wie er solche Mappen anlegte, eifrig sammelte, und später nie wieder einen Blick hineinwarf. Ich habe noch solche Mappen, aber benutze sie nicht mehr, ihr Inhalt  ist schon gelb und brüchig geworden." Friedrich Weltzien lacht: "Ja, das war vor Google-Zeiten." Ich: "Da ist Google wirklich ein Segen." Der Kunstgeschichtler gibt zu bedenken:"Aber die Zeichner der Zukunft werden keine so interessanten Materialsammlungen mehr hinterlassen. Das ist schade." 
Frau Reich:" Auch keine Korrespondenzen mehr."
Aber hoffentlich Skizzenbücher.



Mit Searles Werk habe ich mich bis zum heutigen Zeitpunkt nicht beschäftigt. Diese Nachlässigkeit erweist sich als Vorteil, denn beim Durchblättern seiner Skizzenbücher - wir beginnen beim ältesten aus dem Jahr 1939 - lerne ich ihn als 19jährigen jungen Mann kennen, nicht als bereits ausgebildete Künstlerpersönlichkeit. Er zeichnet alles, was ihm vor die Augen kommt: Menschen, Orte, Details, viele Hände, viele Füsse, viele Köpfe, kleine Zimmer. Ich zeige drauf:"Jede Wette, das sind die Zimmer, in denen er wohnte. Abends, wenn man alleine zu Hause sitzt, zeichnet man eben sein eigenes Zimmer, bevor einem langweilig wird oder einfach zum Üben. Da hat man Ruhe, deshalb sind diese Wohnsituationen meistens besonders akkurat ausgeführt." 
"Mit welchem Werkzeug er wohl zeichnete?" sinniere ich, "Feder oder Füllfeder?" 
Ich bemerke erst, dass Frau Reich aus dem Raum gegangen ist, als sie zurückkehrt und sagt:"Damit."


Mit einem klackernden Geräusch stellt sie Searles Werkzeuge auf den Tisch, zumindest jene, mit denen er - unter anderem - bis zu seinem Tod gearbeitet hat. 








Schon in den frühen Skizzenbüchern zeigt sich seine Begabung zum Portraitisten. Bald kann er die Charakteristika einer Person in wenigen Strichen einfangen. Noch zeichnet er naturalistisch, aber die Stilisierung wird von Skizzenbuch zu Skizzenbuch stärker. Anhand der Skizzenbücher kann man verfolgen, wie ein Künstler seine Handschrift findet.
Man bekommt auch Einblicke in Privates, denn ein Skizzenbuch ist eine uneditierte, chronologisch geordnete Folge von Zeitzeugnissen. Jenes hübsche Mädchen, das häufiger auftaucht, manchmal sogar leicht bekleidet ... in welcher Beziehung stand sie wohl zum Künstler?

Im Keller lagern grossformatige Originalzeichnungen.



Zum Beispiel jene, die er 1961 während des Eichmann-Prozesses angefertigt hat. 





Searles Ausweis, mit dem Zutritt zum Jerusalemer Gerichtssaal bekam.

In den Schubladen finden sich weitere Skizzenbücher, manche wurden speziell für bestimmte Reisen angelegt, und wenn die Reise zu Ende war, aber das Buch noch nicht, dann wurde es eben halbleer weggelegt. Das Büchlein aus Hamburg, St. Pauli ist bis zum letzten Blatt gefüllt. 







Herbertstrasse 
Naturstudien
1967 waren Bienenkorb-Frisuren modern.
Notfall auf der Reeperbahn


Reichlich seltsames Etablissement: "Das Hippodrom."


Fortsetzung folgt ...

Montag, 15. Dezember 2014

Addendum 2014

by Ulli Lust 

(Please excuse my poor english)

I am not a happy traveler. Nowadays I prefer to stay at home near my drawing table. Sounds boring, sorry. 
But - could I reject an invitation to a Comics Festival in Columbia? I did it before,  twice, still the direktor of Entrevinetas, Daniel Jiménez Quiroz was persistent enough to ask a third time, and  a fortune teller in Berlin told me, that this trip will be like a party, like a big intoxication. So I finally flew to Bogota end of September, two days later to Medellin, for lectures, panel discussions and hanging out with other comics artists. The festival was really like a big party, surprisingly only intoxicated by exhaust fumes of the crazy traffic in these two cities. 



Me, Kelly Moctezuma, Ben Newman, Laura Acosta


Marco Tóxico, Javier Bolivar, Laura Andrea Garzón;
Half an hour before, Laura Acosta brought Javier to me, speaking:"Javier is a winner. He won our  junior competition in Bogota." "Congratulations!", I said," what did you win?" He smiled shyly, probably because his english was bad. Lauras answer revealed: "He won one hour with you." 
I made, "Oh". We decided to go eating all together.

Marco Tóxico, Riccardo Rodrigez, Daniel Jiménez Quiroz, Pablo Guerra, El Tio Berni, Edmond Baudoin, Jim Stoten, Manuele Fior, Bef, Martin El Alegre, Ben Newman, Ana Merino, Berliac, Laura Acosta, Sam Alden, Frank Santoro, Fernando Boltrón, Olivier Schrauwen, Jonathan D. Morven, Ulli Lust, Santiago Orozco Duque;


Our flights back to Berlin were canceled thanks to the Air France pilot strike, Olivier Schrauwen and me got new connections, which enlarged the travel duration from 20 to 48 hours. And we had to wait for a connection flight in New York for a whole day!
Wait a moment,  a day in New York? That didn't sound so bad. I wrote a mail to our friend Bill Kartalopoulos, if he might find time for a coffee together. At first, Olivier and me strolled  through Soho, started with the coffee, because we  didn't sleep since 24 hours, and looked for an internet cafe. Olivier had heard something about a Richard McGuire exhibition, and that he had made a new book. We are both big fans of his work. We didn't even find a book shop.
But we got a SMS by Bill, who wrote: "I made some possible appointments for you. We can go to the New York Times and then have lunch with the art director Olivier knows, Alexandra Zsigmond. Then we can preview Richard McGuire's exhibiton, which opens on Thursday. After that we may be able to meet Art Spiegelman for a coffee.

And that was exactly, what happend on our day in New York, except we drank red wine in Art Spiegelmans studio.
Intoxicating!
Olivier Schrauwen, Bill Kartalopoulos
Olivier Schrauwen, Alexandra Zsigmond, me; the background is part of Alexandras work space and shows illustrations from around the world. I found several drawings by german colleagues, like Sophia Martinek, Atak, Henning Wagenbreth ... 
Richard McGuires exhibition wasn't open yet, there were still tools standing arround,  in the air the penetrating smell of fresh colour. I looked at the images and felt high immedeately
"Here" was a 36-panel comic published in Raw volume 2 #1 in 1989. Built in six pages of interlocking panels, dated by year, it collapsed time and space to tell the story of the corner of a room - and its inhabitants - between the years 500,957,406,073 BC and 2033 AD. Now Richard Mc Guire had enlarged the concept to a book-lenght version, and the exhibition in the Morgan Library showed excerpts of the working prozess. The book itself wasn't delivered yet. 








Happy me, Joel Smith (curator of the show) and Olivier Schrauwen.
After that, we went to Art Spiegelmans studio and on his table - miraculously - was a copy of THE book, which excerpts we had just seen before. Art Spiegelman had gotten an advance copy, being asked to talk about it in an interview. 

Thousand thanks to Bill Kartalopoulos, who turned this day into one of the great moments of my life. 
 "Hier" was released in Germany by Dumont Verlag.