von Ulli Lust
Ihr Ruf ist so schlecht, ich bin versucht, die Namensnennung hinauszuzögern. Und doch hat Jochen-Martin Gutsch 2003 in der Berliner Zeitung ganz bezaubernde Worte für sie gefunden:"Hannover ist das Gegenteil von Sommer. Wäre Hannover ein Monat, käme der November in Frage. Hannover als Essen vorgestellt, wäre eine Brühe, und müsste man Hannover mit einer Geste beschreiben, würde man gähnen. Hannover heißt durchfahren, aber nicht bleiben. Es ist der beste Umsteigebahnof in Deutschland."
Ich bin ausgestiegen. Genau genommen steige ich jede Woche aus und bleibe drei Tage. Ich unterrichte hoffnungsvolle junge Zeichner an der Hochschule Hannover in den Disziplinen der narrativen Zeichnung.
Zeichnende Studenten im Georgengarten vor dem Wilhelm-Busch-Museum, Sommer 2014 |
Die Ausstellung ist längst abgebaut, die Bilder ruhen wieder in metallenen Schubladen in einem korrekt klimatisierten Raum im Keller des Museums, gemeinsam mit vielen anderen historischen Artefakten.
Dieser Schatz übt eine magische Anziehungskraft auf mich aus, ich möchte ihn für meine Studenten erschliessen. Sie sollen wissen, auf welchen Schultern sie stehen. Es sind die Schultern von Riesen.
Frau Reich führt uns - den Kunsthistoriker Friedrich Weltzien und mich - nicht in den Keller, sondern über verwinkelte Hintertreppen durch Flure voller Bücherregale bis unters Dach in ihr Büro. Sie erschließt den Nachlass des britischen Zeichners Ronald Searle (1920 - 2011). Searle hat ihn britischen Museen angeboten, aber während die sich zögerlich zeigten, sagte das Wil
Frau Reich erzählt, ich sehe mich im Raum um. Auch hier Bücherregale an allen Wänden. "Und was ist das hier?", frage ich, auf die Regale deutend. "Das ist der Nachlass," antwortet sie,"zumindest Teile davon." Ich sehe mir die Buchrücken genauer an und die in akkurater Schnörkelschrift handgeschriebenen Beschreibungen des Inhalts. Es sind keine Bücher, es sind Mappen.
Darin finden sich Belegexemplare, Korrespondenzen mit befreundeten Künstlern, Skizzen & Skizzenbücher. Es gibt eine Reihe von Mappen mit den Aufschriften wie "Birds", "Plants", "Circus" ... Ich erkenne sie: "Ach, das sind die Materialsammlungen, die man früher als Illustrator anlegen musste, Zeitungsausschnitte, Fotos, Vorlagen für Zeichnungen. George Grosz hat in seiner Autobiographie "Ein kleines Ja und ein großes Nein." sehr unterhaltsam beschrieben, wie er solche Mappen anlegte, eifrig sammelte, und später nie wieder einen Blick hineinwarf. Ich habe noch solche Mappen, aber benutze sie nicht mehr, ihr Inhalt ist schon gelb und brüchig geworden." Friedrich Weltzien lacht: "Ja, das war vor Google-Zeiten." Ich: "Da ist Google wirklich ein Segen." Der Kunstgeschichtler gibt zu bedenken:"Aber die Zeichner der Zukunft werden keine so interessanten Materialsammlungen mehr hinterlassen. Das ist schade."
Frau Reich:" Auch keine Korrespondenzen mehr."
Aber hoffentlich Skizzenbücher.
Mit Searles Werk habe ich mich bis zum heutigen Zeitpunkt nicht beschäftigt. Diese Nachlässigkeit erweist sich als Vorteil, denn beim Durchblättern seiner Skizzenbücher - wir beginnen beim ältesten aus dem Jahr 1939 - lerne ich ihn als 19jährigen jungen Mann kennen, nicht als bereits ausgebildete Künstlerpersönlichkeit. Er zeichnet alles, was ihm vor die Augen kommt: Menschen, Orte, Details, viele Hände, viele Füsse, viele Köpfe, kleine Zimmer. Ich zeige drauf:"Jede Wette, das sind die Zimmer, in denen er wohnte. Abends, wenn man alleine zu Hause sitzt, zeichnet man eben sein eigenes Zimmer, bevor einem langweilig wird oder einfach zum Üben. Da hat man Ruhe, deshalb sind diese Wohnsituationen meistens besonders akkurat ausgeführt."
"Mit welchem Werkzeug er wohl zeichnete?" sinniere ich, "Feder oder Füllfeder?"
Ich bemerke erst, dass Frau Reich aus dem Raum gegangen ist, als sie zurückkehrt und sagt:"Damit."
Mit einem klackernden Geräusch stellt sie Searles Werkzeuge auf den Tisch, zumindest jene, mit denen er - unter anderem - bis zu seinem Tod gearbeitet hat.
Schon in den frühen Skizzenbüchern zeigt sich seine Begabung zum Portraitisten. Bald kann er die Charakteristika einer Person in wenigen Strichen einfangen. Noch zeichnet er naturalistisch, aber die Stilisierung wird von Skizzenbuch zu Skizzenbuch stärker. Anhand der Skizzenbücher kann man verfolgen, wie ein Künstler seine Handschrift findet.
Man bekommt auch Einblicke in Privates, denn ein Skizzenbuch ist eine uneditierte, chronologisch geordnete Folge von Zeitzeugnissen. Jenes hübsche Mädchen, das häufiger auftaucht, manchmal sogar leicht bekleidet ... in welcher Beziehung stand sie wohl zum Künstler?
Im Keller lagern grossformatige Originalzeichnungen.
Zum Beispiel jene, die er 1961 während des Eichmann-Prozesses angefertigt hat.
Searles Ausweis, mit dem Zutritt zum Jerusalemer Gerichtssaal bekam. |
In den Schubladen finden sich weitere Skizzenbücher, manche wurden speziell für bestimmte Reisen angelegt, und wenn die Reise zu Ende war, aber das Buch noch nicht, dann wurde es eben halbleer weggelegt. Das Büchlein aus Hamburg, St. Pauli ist bis zum letzten Blatt gefüllt.
Herbertstrasse |
Naturstudien |
1967 waren Bienenkorb-Frisuren modern. |
Notfall auf der Reeperbahn |
Reichlich seltsames Etablissement: "Das Hippodrom." |
Fortsetzung folgt ... |